Gabriel García Márquez: One Hundred Years of Solitude

One Hundred Years of SolitudeLange habe ich mit dem kolumbianischen Autor Gabriel García Márquez geliebäugelt, dessen Werke mich seit jeher allein durch ihre Titel geradezu magisch angezogen haben. (Die Cover der Penguin-Neuausgaben können sich allerdings auch sehen lassen, wie ich finde.) Als dann mein Sommerurlaub in Lissabon vor der Tür stand, von dem ich mir u.a. jede Menge ungestörte Lesezeit versprach, habe ich schließlich Nägel mit Köpfen gemacht und „One Hundred Years of Solitude“ zur Urlaubslektüre auserkoren. Zwar brauchte ich dann doch etwas, um in diesen unglaublich vielschichtigen Roman hineinzufinden. Nachdem ich mich jedoch einmal in den Rhythmus und die Erzählweise von Márquez hineingelesen hatte, bin ich dem Bann seines magischen Realismus ebenso sehr erlegen wie dem Charme der portugiesischen Hauptstadt…

„One Hundred Years of Solitude“ erzählt über mehrere Generationen hinweg die Geschichte der Familie Buendía, die wiederum eng verbunden ist mit der Geschichte des Ortes Macondo, gegründet vom Oberhaupt der Familie, José Arcadio Buendía. Dieser eigentümliche, abgeschiedene Ort wird im Verlauf der Handlung zum Schauplatz von gefühlt jedem nur erdenklichen menschlichen Drama: Herzen werden erobert und gebrochen, Hoffnung geweckt und zerstört, Leben wird geschenkt und genommen. Und das ist noch nicht alles. Von einer eigenartigen Seuche, die der gesamten Bevölkerung des Ortes zunächst den Schlaf und schließlich das Gedächtnis zu rauben droht, über die Verheerung blutiger Kriege und Revolutionen bis hin zur Industrialisierung bleibt der Familie Buendía (und dem Leser) kaum etwas erspart. Tatsächlich entfaltet Márquez innerhalb des Mikrokosmos dieser einen außergewöhnlichen Familie ein solch komplexes Panorama südamerikanischer Geschichte, das einem fast ein bisschen schwindelig werden kann und jeder weiterführende Versuch, die Handlung grob zusammenzufassen, ein hoffnungsloses Unterfangen wäre.

Die Tatsache, dass dieser Mikrokosmos zudem von einer beachtlichen Zahl an Charakteren bevölkert ist, deren Namen sich auch noch ständig wiederholen, macht die Sache nicht gerade leichter. Wie gut, dass gleich zu Beginn des Buches ein Stammbaum abgebildet ist, zu dem ich mehrfach zurückgeblättert habe.  Manche der Figuren begleiten den Leser dabei nur auf ein paar Seiten (und sind mir doch ans Herz gewachsen), andere bis fast zum Ende der Geschichte. Und selbst die Verstorbenen sind nicht völlig verloren, sondern spielen mitunter als Geister weiterhin eine aktive Rolle. Wie zum Beispiel – so viel SPOILER! muss sein – Familienoberhaupt José Arcadio Buendía, der im Laufe der Geschichte das Zeitliche segnet, mir jedoch selbst nach dem Tod u.a. noch diesen tragisch-komischen Moment beschert hat:

„There was still so much time left for the sun to come out that José Arcadio Buendía was still dozing under the shelter of palm fronds that had been rotten by the rain. He [= Colonel Aureliano, sein Sohn] did not see him, as he had never seen him, nor did he hear the incomprehensible phrase that the ghost of his father addressed to him as he awakened, startled by the stream of hot urine that splattered his shoes.“ (S. 269)

Und da ist er auch schon – der viel beschworene magische Realismus, dieses Verschwimmen der Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit, und die überwältigende Bildsprache, die Márquez‘ Geschichte manchmal wie ein Traumgebilde erscheinen lassen. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch Márquez‘ Erzählweise, die ebenfalls etwas magisches hat, das sich schwer in Worte fassen lässt – komisch und tragisch zugleich, bisweilen ironisch, nur am Rande interessiert an zeitlicher Kohärenz und ganz und gar durchdrungen vom immer wiederkehrenden Motiv der Einsamkeit.

Da stört es auch nicht weiter, dass sich Männer wie Frauen bei Márquez durch recht eindimensionale Charakterzüge und Verhaltensmuster auszeichnen: kraftstrotzende, mitunter aufbrausende Männer, die sich bis zur Besessenheit in wahnwitzige Pläne hineinsteigern, auf der einen, in sich gekehrte, gelehrsame Einzelgänger auf der anderen Seite; die Frauen entweder leidenschaftliche Liebhaberinnen oder bodenständige Ehefrauen und Mütter mit gesundem Menschenverstand, die dann jedoch über weite Strecken v.a. damit beschäftigt sind, ihre Männer in Zaum zu halten, während diese Luftschlösser bauen. Ich für meinen Teil habe trotzdem so manche Figur – auch ohne ausgeprägte individuelle Charakterzüge – liebgewonnen und manch andere mit Vergnügen verabscheut.

Márquez‘ beeindruckendste erzählerische Leistung besteht für mich allerdings darin, dass er trotz bzw. mittels dieser wenig individualisierten Charaktere einen literarischen Ort schafft, der so voller Leben und Geschichte ist, das man nicht verwundert wäre, ihn doch auf irgendeiner Landkarte zu finden. Und nicht zuletzt liegt in den sich wiederholenden Namen und den damit immer wieder einhergehenden Charakterzügen und Schicksalen die größte Tragik und zugleich die faszinierendste (wenn auch nicht mehr ganz neue) Erkenntnis des Romans: jene der sich beständig wiederholenden Geschichte, durch die – in letzter Konsequenz – jedes Streben nach Weisheit, nach Veränderung, nach Fortschritt vergeblich ist. Jedoch muss man sich dieser zugegebenermaßen fatalistischen Sichtweise nicht zwangsläufig anschließen, um Passagen wie die folgende für ihre sprachliche Schönheit ebenso zu bewundern wie für ihre gedankliche Tiefe:

„… and then they understood that José Arcadio Buendía was not as crazy as the family said, but that he was the only one who had enough lucidity to sense the truth of the fact that time also stumbled and had accidents and could therefore splinter and leave an eternalized fragment in a room.“ (S. 355)

~ Fazit ~

Ein faszinierendes Stück Weltliteratur von bemerkenswerter erzählerischer Dichte, das seinen Ruf als Magnum Opus mehr als verdient und mich nach ein paar Startschwierigkeiten ganz und gar in seinen in vielerlei Hinsicht magischen Bann gezogen hat. 4,5 Sterne

Titel: One Hundred Years of Solitude
Autor: Gabriel García Márquez
Verlag: Penguin Books
Taschenbuch: 422 Seiten
ISBN: 978-0-241-96858-1

5 Kommentare

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5 Antworten zu “Gabriel García Márquez: One Hundred Years of Solitude

  1. Ich habe es auch schon mehrmals gelesen und bin ebenfalls total begeistert von diesem Roman. Als ich vor kurzem dazu eine Rezension verfasst habe, stand ich mit meiner Begeisterung aber wohl ziemlich alleine da, die Kommentatoren konnten „Hundert Jahre Einsamkeit“ leider nichts abgewinnen… 😉

    • Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, diesen Roman irgendwann noch einmal zu lesen – man entdeckt vermutlich jedes Mal etwas Neues. Und im Gegensatz zu den Kommentatoren kann ich mich deiner Rezension absolut anschließen 🙂

  2. Robert Seidemann

    Ich habe den Roman nach 25 Jahren erneut gelesen: ich komme dabei aus dem Staunen nicht heraus. Und mir fällt dauernd was Neues dazu ein, auch hier auf wordpress.

  3. Liebe Claudia,
    für diese Besprechung von mir geich eine dreifache Bewunderung: einmal, weil die Besprechung mitreissend ist. Dann, weil Du den Roman in englischer Übersetzung gelesen hast (das Pinguin-Cover ist wirklich der Knaller) und zum Dritten, weil Du das Buch ganz bis zum Ende geschafft hast.
    Letzteres ganz besonders deshalb, weil meiner einer dieses Buch schon mindestens drei mal begonnen hat und nie nicht weiter gekommen ist bis zur Seite 100 – also was soll ich sagen: dieser magische Realismus der Marquez’schen Art scheint irgendwie nicht mein Ding zu sein, oder, wie mein rheinischer Vater zu sagen pflegte: Banane auf indisch jeit mit an misch…
    Trotzdem, WENN ich es je noch einmal versuchen sollte – das Buch steht ja immer noch als stiller Vorwurf im Regal – dann wegen Deiner Besprechung.
    Liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,
      hab vielen Dank für dein Lob, das mich umso mehr freut, als dass mir der Einstieg ins Marquez’sche Opus ja auch nicht unbedingt leicht gefallen ist. Aber ich würde behaupten: Es lohnt sich, denn wenn man einmal ‚drin‘ ist, lässt es einen so schnell nicht mehr los. Und magischer Realismus hin oder her, man kann den Roman ja auch durchaus „nur“ als faszinierende Familiensaga und/oder Panorama der südamerikanischen Geschichte lesen – auch wenn ich Marquez‘ ganz speziellen Ton, seine opulente Bildsprache dabei trotzdem nicht missen wollen würde…
      Liebe Grüße
      Claudia

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