~ Jenseitsnovelle ~

Auf die „Jenseitsnovelle“ bin ich das erste Mal im Programm der Leipziger Buchmesse 2011 aufmerksam geworden. Der so einfache wie prägnante Titel hat mich gleich angesprochen, und zusammen mit dem – wie ich finde – sehr gelungenen Cover und dem Klappentext deutete alles auf eine tragische Geschichte „über das Glück und das Unglück der Liebe und wie der Tod all ihre Gewissheiten zunichte machen kann“ hin. Der Autor Matthias Politycki wird noch dazu vom Tagesspiegel als „Grandseigneur unserer Literatur“ bezeichnet – da kann man ja nicht viel falsch machen… Oder?

„Jenseitsnovelle“ ist die Geschichte von Hinrich Schepp, der eines Morgens seine geliebte Ehefrau am Schreibtisch sitzend vorfindet. Zunächst scheint es, als hätte sie beim Korrigieren eines seiner Texte einfach die Müdigkeit übermannt, doch Doro schläft nicht – sie ist tot und das scheinbar schon seit ein paar Stunden. Und das bleibt nicht der einzige Schock an diesem schicksalhaften Morgen, denn beim Lesen ihrer Kommentare zu einem alten Text von ihm – er fühlt sich verpflichtete, ihr diesen letzten Dienst zu erweisen (alles anderes, sprich Arzt rufen, die Kinder informieren etc. kann warten) – muss er feststellen, dass Doro von der seiner Meinung nach so glücklichen Ehe mehr als enttäuscht war…

Rein formal ist Polityckis Novelle durchaus gelungen. Sprachgewandt wechselt der Autor zwischen unterschiedlichen Stilebenen, denn neben Schepps Erinnerungen an und Gedanken über seine Ehe ist auch eine Geschichte in der Geschichte von zentraler Bedeutung. Dabei handelt es sich den Roman „Marek, der Säufer“, den Schepp vor langer Zeit geschrieben hat, gänzlich ohne Bezug zu seinem jetzigen Leben, den Doro jedoch auf verstörende Weise umgeschrieben hat. So erfährt der Leser mit Schepp gemeinsam Stück für Stück die Wahrheit über diese Ehe, die – wie man bald merkt – nicht nur eitel Sonnenschein war. Seite für Seite, die Schepp sich durch Doros Korrekturen arbeitet, Schicht für Schicht wird freigelegt, wie es um die Beziehung aus Sicht von Doro tatsächlich stand.

Dabei fühlt man als Leser schon mit Schepp, kann das Wechselbad der Gefühle, in das er gerät – eine Mischung aus Ungläubigkeit, Trauer, Wut, Verzweiflung und Resignation – leicht nachempfinden. Trotzdem ist er für mich kein allzu sympathischer Charakter, denn man spürt ja recht schnell, dass seine Sicht der Dinge nur einen Teil der ehelichen Realität darstellt… Schepp scheint zunächst noch der Inbegriff des etwas schrulligen, weltfremden Gelehrten gewesen zu sein, bis zu einer Augenoperation, dank derer er nun die Welt zum ersten Mal wirklich sieht – damit jedoch das wesentliche aus den Augen verliert: seine große Liebe Doro. Denn während Schepp nach dieser Operation – nach eigener Aussage – regelrecht aufblüht und auf seine alten Tage beinahe noch zum Casanova wird, leidet Doro lange still unter der Veränderung ihres geliebten Mannes, für den sie so viel aufgegeben hat. Doch schließlich schlägt ihr Leid in Wut um, der sie in Form eines Abschiedsbriefes und einer unerwarteten Offenbarung Luft macht, durch die dieses bis dahin recht einseitige Beziehungsdrama einen interessanten Twist erhält.

Das titelgebende Jenseits-Motiv ist im Text immer wieder präsent durch Doros düster-mystische, angstvolle Vorstellung vom Jenseits als einem dunklen See, in dem man einen zweiten, endgültigen Tod sterben muss. Hoffnung und Trost spendet allein die Vorstellung, dass am Ufer dieses Sees jemand auf uns wartet und uns die Hand hält. Doch kann es so etwas wie Liebe bis in den Tod bzw. ins Jenseits wirklich geben? Denn insgesamt ist diese Novelle eher eine Geschichte über Entfremdung, (Miss-)Verständnis und Eifersucht, vor allem aber über Blindheit – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne – und den Segen bzw. Fluch des Klarsehens:

„Ja, solange Du fast blind durchs Leben gingst, war ich Dir gut genug, solange ich Dir Deine Texte korrigierte, hast Du mir gern versichert, mich sogar im Jenseits noch an der Hand zu halten. Kaum konntest Du sehen, wem hast Du sie dann tatsächlich gehalten?“ (S. 95)

~ Fazit ~

Meines Erachtens ist der Klappentext nur bedingt zutreffend: „Jenseitsnovelle“ mag in Ansätzen eine Geschichte über die große Liebe sein, mehr als einmal jedoch wird das Erzählte, das Stoff für so viel Tragik und Emotionalität gegeben hätte, satirisch gebrochen. Das ist weder ungewöhnlich, noch verwerflich und höchstwahrscheinlich vom Autor beabsichtigt aber ich hatte mir durch Titel, Cover und Klappentext einfach etwas anderes versprochen. Nichtsdestotrotz: 3,5 Sterne für die an sich kunstvoll komponierte Geschichte.   

Titel: Jenseitsnovelle
Autor: Matthias Politycki
Gebunde Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Hoffmann und Campe
ISBN: 978-3455401943

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